Es ist kurz vor zwölf, ich habe nichts gefrühstückt und sterbe fast vor Hunger. Das hat man davon, wenn man bereits direkt nach dem Aufstehen seine Bewerbung immer und immer wieder durchsieht und nach Gründen für die ausbleibende Antwort sucht. Finden sie die Fotos nicht gut genug?
Ich fahre mir durch die Haare, ziehe mein Handy aus der Hosentasche und betrachte mich kurz im spiegelnden Display, bevor ich es anschalte und den Chat öffne. Die Uhrzeit stimmt, er müsste jeden Moment kommen.
Die Vorfreude auf Mike kann mich aber auch nicht von der Dating-Agentur ablenken. Was ist, wenn sie der Meinung sind, dass ich andere Menschen durch ein einziges Bild, eine Werbeanzeige irgendwo an einer Bushaltestelle, nicht dazu bringen kann, sich die Website anzusehen, um ihr Glück zu finden? Dass ich die Werbung „Finde jemanden, der genauso strahlt wie du“ nicht durch ein Bild nach außen tragen kann? Und wenn es tatsächlich so ist, wie kann ich es dann selber, mein Glück finden?
Ich seufze und suche nach dem Bild. Nach seinem Bild. Nachdem mein Blick ein paar Sekunden an den braunen Haaren und dem schmalen Gesicht, das in die Kamera strahlt, hängen geblieben ist, gleiche ich es mit meiner Umgebung ab, suche mit den Augen nach diesem umwerfenden Gesicht. Ab und zu läuft ein Kellner vorbei und deutet fragend auf die Speisekarte. Wenn ich dann den Kopf schüttele, neigt er seinen und geht weiter. Niemand bleibt stehen, um mich anzulächeln und hallo zu sagen, mich genau auf die Art und Weise zu begrüßen, wie Mike es tagtäglich übers Handy macht.
Als ich zu überlegen beginne, ob ich einfach schon einmal etwas bestellen soll, legt sich eine Hand auf meine Schulter.
„Daniel?“, fragt eine Stimme, tief und ein bisschen heiser. Als ich mich umdrehe, blicke ich in das Gesicht eines Mannes mit braunen Haaren, einem Lächeln darauf und einem Auge, das irgendwo links unter dem anderen hängt und dessen Lid einen von Äderchen durchzogenen Sack darunter bildet. Ich lächele und versuche, nicht allzu offensichtlich darauf zu starren, aber in mir krampft sich etwas zusammen.
Wer ist das?
Er weiß meinen Namen und macht gerade Anstalten, sich mir gegenüber hinzusetzen. Er geht davon aus, dass er mein Date ist. Aber er ist nicht mein Date. Ich sollte den gut aussehenden Mann von dem Foto vor mir sitzen haben.
„Mike?“, frage ich. Er nickt und das ist die Bestätigung. Dieser Mann hat rein gar nichts mit dem Mike von dem Bild gemeinsam. Und doch ist er es.
Während wir warten, mustert Mike mich eine Weile versonnen und fragt mich dann nach meiner momentanen Lebenssituation. Ich habe keine Geheimnisse, also rede ich drauf los.
“Und dein Job?”
“Das ist eher schwierig”, erwidere ich zögernd. “Ich habe mich bei einer Agentur beworben, aber irgendwie kommt keine Antwort.”
Der Kellner kommt, das Essen kommt. Während ich mich erfolglos bemühe, langsam zu essen, betrachtet Mike die Nüdelchen auf meinem Teller. Er erzählt, wie er sich als kleines Kind welche in die Nase gesteckt hat und ins Krankenhaus musste, weil er keine Luft mehr bekommen hat. Als er ganz genau schildert, wie der Arzt mit einer Pinzette vor ihm stand, bereit, sie auch einzusetzen und er niesen musste, sodass die Nudeln dem Arzt auf den Kittel flogen, lache ich. Es liegt nicht nur an der Geschichte, es ist die Art, wie er sie erzählt und wie sich dabei Grübchen in seinen Wangen bilden. Grübchen, auf denen mein Blick nicht lange verweilt. Es ist sein Auge, das meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ich frage mich, warum es so aussieht. Ich frage mich, ob es der Grund ist, warum er mir nie sein echtes Gesicht gezeigt hat. Und ich frage mich, ob es fair wäre, ihm und mir etwas vorzumachen.
Mike hat das Thema gewechselt, ohne dass ich es mitbekommen habe. Er redet über Beziehungen.
„Ich möchte mit meinem zukünftigen Lebenspartner lachen können, bis ich Bauchschmerzen habe“, sagt er und lächelt mich mit seinen Grübchen an. Seine Augen funkeln. „Und ich möchte auch mit ihm weinen können. Ich will, dass wir alles teilen, auch saubeschissene Nachmittage auf der Couch, an denen wir beide scheiße aussehen.“
Er fragt mich, wie ich über dieses Thema denke. Ich denke darüber nach, was ich antworten soll. Einige Augenblicke verstreichen, bevor ich ihm auf den Nasenrücken starre, weil es dann für ihn so aussehen muss, als sähe ich ihm in die Augen. In das eine normale Auge und das andere lädierte gleichzeitig. Dann antworte ich: „Für mich ist Ehrlichkeit die Grundlage einer Beziehung, egal, ob romantisch veranlagt oder nicht. Und vor allem eine romantische Beziehung funktioniert meiner Meinung nach nur, wenn von Anfang an niemand falsche Erwartungen setzt und keine Missverständnisse entstehen.“
Ich sehe, wie Mike darüber nachdenkt und eine Bedeutung hineininterpretiert. Die Grübchen verschwinden und dann sind da nur noch seine Augen, die mich ein wenig enttäuscht, traurig, vorwurfsvoll mustern. Nachdem er Geld aus seiner Tasche hervorgekramt und auf den Tisch gelegt hat, steht er auf. Er wirkt in sich zusammengesunken, vielleicht auch ein bisschen nachdenklich, als er das Restaurant verlässt.
Ich bleibe alleine sitzen.
Ich beschließe zu gehen. Zunächst einmal werde ich mich nur noch auf meinen Job konzentrieren. Auf meinen zukünftigen Job.
Eine Weile schwirrt der Gedanke an Mike noch in meinem Kopf herum, aber am Tag darauf beginne ich meinen Neustart, mein Leben ohne Mike. Während ich darauf warte, dass mein E‑Mail-Posteingang fertig lädt, beschleunigt sich mein Herzschlag immer mehr. Ich habe eine Nachricht bekommen, und sie ist tatsächlich von der Dating-Agentur. Ein kurzer Text, der lautet:
Daniel,
es tut mir leid, dir mitteilen zu müssen, dass ich deine Bewerbung hiermit ablehne, aber ich habe festgestellt, dass zwischen deinen Interessen und denen der Agentur zu große Unterschiede bestehen. Nimm es mir nicht übel, aber „Finde jemanden, der genauso strahlt wie du“ ist nicht nur auf ein hübsches Gesicht bezogen.
Grüße
M. Ackermann
(Mike)
Beim ersten durchlesen dachte ich nur dass Daniels Date ein wirklich komischer Typ ist, die Pointe hat mich eiskalt erwischt. Schon erstaunlich wie schnell sich der Blick auf einen Menschen ändert. Ein sehr gelungener Beitrag.
Ooh danke, das freut mich total!