Die Gans ist keine Gans mehr, nur noch ein Stück Fleisch, triefend vor Fett, mitten auf dem Tisch. Trotzdem ist es ein befriedigendes Gefühl, das Messer in ihr zu versenken. Ich schneide, bis ich am Boden bin, und entferne alle Knochen. So lange, bis hübsche kleine Stücke vor mir liegen. Ich nehme das erste mit dem Messer auf und lege es auf Mamas Teller. Sie runzelt ihre Stirn nicht wie sonst. Trotzdem ziehen sich die Falten auf ihrem Gesicht durch, hart und so tief, dass es kaum möglich scheint bei so dünner Haut und so wenig Fleisch. Sie macht auch keinen Kommentar über mein Verhalten, meine Tischmanieren, was auch immer sie sonst zu bemängeln hat. Sie will ja nicht unhöflich sein. Will sich nicht vor ihrer Familie blamieren. Es tut ihr gut, den Mund zu halten.
Das nächste Stück Gans geht an Lucie, deren Augen glitzern, als sie mich ansieht, sie glitzern so wie das Wasser in ihrem Glas. Ihr Glas ist sauber, es ist das einzige, das noch keine Fettspuren von ihrem Mund oder Fingerabdrücke abbekommen hat. Sie ist so jung und so unschuldig. Neun, glaube ich. Ich lächle, ich lasse mir Zeit bei ihr, drapiere die Gans noch ein bisschen, bis der Winkel stimmt. Dann muss ich aufstehen, der Tisch ist zu groß und ich will ja nichts umwerfen, weder die Kerzen noch die Gewürze. Der Stuhl quietscht auf dem Marmor, als ich ihn nach hinten schiebe. Ein hässliches Geräusch, das mich innehalten lässt. Ich hebe ihn an.
Besser.
Das Messer lege ich zurück auf den Gansteller. Zu kompliziert. Ich nehme das nächste Stück mit den Fingern von der Tischmitte und gehe damit zu Tante Em. Sie ist jünger als Mama und sie hat keine Falten. So, wie auch Lucie nie Falten haben wird. Tante Em hat die gleichen braunen Haare, mit der gleichen Sorgfalt gekämmt, das gleiche Glitzern in den Augen. Hat die Hände auf ihre Oberschenkel gelegt, die unter dem Rock hervorschauen, ein roter Rock, und roter Nagellack. Fast bin ich versucht, den Finger auf ihre rot geschminkten Lippen zu legen. Ihr ins Ohr zu flüstern: „Schön siehst du aus, meine Liebe.“
Stattdessen gehe ich zu Oma weiter, meine liebe Oma mit dem aufgequollenen Gesicht. Sie hat versucht, ihre Muttermale und die ganzen hässlichen Altersflecken abzudecken, aber es ist zu viel, viel zu viel, ihr Gesicht glänzt. Ihr gehört die Wohnung, der Marmorboden und die Stühle, die darauf quietschen, und die Bücherregale, die sich von Wand zu Wand zu Wand ziehen, und der spröde Weihnachtsbaum in der Ecke und die einzelnen, verlorenen Kerzen auf dem Tisch, die nicht brennen. Ich greife über den Tisch zum letzten Stück Gans und lege es auf ihrem Teller ab. Muss lächeln, weil sie so gut zusammenpassen, beide fett und glänzend. Lächelnd wische ich mir die Finger an Omas Bluse ab und lächelnd drücke ich ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann richte ich mich auf. Als ich zurück zu meinem Platz gehe, halte ich noch einmal kurz inne, um den Blutfaden wegzuwischen, der aus Lucies Mund rinnt. Jetzt ist sie wieder schön. Ich setze mich hin, greife nach den Streichhölzern und zünde die Kerzen an.
Wow, dieser Blogeintrag (kp sagt man das so?) hat mich echt umgehauen!
Danke! Weißt du, die Tatsache, dass dich mein Blogbeitrag umhaut, haut mich auch um 🙂